Es mag merkwürdig sein, unter der Überschrift
Die Zukunft
einen Blick zurück zu werfen. Prognosen haben
jedoch die unangenehme Eigenschaft, dass sie ohne Kristallkugel
schwer abzugeben sind. Betrachtet man aber die bisherige
Entwicklung, so kann man vielleicht Aussagen über die weiteren
Schritte ableiten. In diesem Sinne handelt es sich hier weniger um
eine Prognose als viel mehr um eine Extrapolation. Wie gelungen
sie ist, bleibt abzuwarten.
Wir haben schon zuvor (siehe Kapitel 2) Übersichten der historischen Meilensteine gezeigt. An dieser Stelle wollen wir das noch einmal tun. In der Abbildung 77 sind einige wichtige Sprachen und Standards (zusammen mit ihrem ungefähren Geburtstag) aufgezählt, die als direkte Vorgänger der heutigen XML-Initiave gelten können. Daneben sind aber auch die Einflüsse und Anwendungen genannt, die XML bis heute erfahren hat.
Für einen Zeitraum von circa 20 Jahren (Ende der Sechziger bis Ende der Achtziger) gab es fast nur einen Einfluss und eine Anwendung, nämlich das Publishing. Spätestens mit dem Web, Ende der Achtziger, kamen Hypertext und Online-Publishing dazu. Ab circa 1998, also mit Erscheinen von XML 1.0, kann man den viel zitierten Boom auch unter diesem Gesichtspunkt beobachten: Obwohl sich gegenüber SGML technisch nicht viel verändert hat, gab es plötzlich neue Anwendungsfelder; allen voran der Bereich E-Commerce mit XML, der trotz großen Medieninteresses noch in den Anfängen steckt. Neue Standards und Anwendungen bauen nun auch auf Erfahrungen aus der Künstlichen Intelligenz (RDF), Multimedia (SMIL und SVG), Objekt-Orientierung (Vererbungsideen in XML-Schema), Datenbanken (XML-Query) und anderen.
Während es früher relativ einfach war, XML komplett zu beherrschen, wird es nun zunehmend schwierig. Es ist unmöglich, ein Experte in all den zuvor genannten Bereichen zu sein. Allerdings macht es auch keinen Sinn mehr, davon zu sprechen, dass man XML beherrscht. Es kommt immer darauf an, in welchem Anwendungsszenario. XML wird zur Selbstverständlichkeit. Wer Publishing (zumindest medienneutral) machen möchte, muss XML beherrschen und verwandte Techniken. Wer E-Commerce machen möchte, muss XML kennen und sich mit elektronischem Handel auskennen. Wer Datenaustausch zwischen Applikationen machen möchte, sollte von XML gehört haben und vielleicht Interprozesskommunikation oder Protokollspezifikation beherrschen.
Der Einsatz von XML rechtfertigt sich nicht
aus sich selbst heraus. Wir machen XML, weil es
XML ist.
— Vom Marketingstandpunkt aus
betrachtet, scheint das in der jüngsten Vergangenheit ein
ausreichender Grund gewesen zu sein. Jeden, der XML
einsetzt, lassen wir jubelnd hochleben, unabhängig davon, ob es
sich um einen sinnvollen Einsatz handelt oder nicht. In Zukunft
verfliegt diese übertriebene Euphorie hoffentlich und weicht der
realistischen Euphorie, mit der es dann aber auch möglich ist,
sich gegen XML zu entscheiden, falls es
Gründe dafür gibt. Dazu müssen die Fachleute für die jeweiligen
Anwendungen, egal ob es Datenbanken oder Multimedia, E-Commerce
oder Publishing ist, XML verstanden haben. Und da der
gesamte Bereich immer größer und unüberschaubarer wird, ist es
notwendig, dass bei der Planung einer Anwendung die Experten
miteinander reden. Bei SGML (und damit
XML) ging es immer darum, sich eine eigene
Sprache zu schaffen. Diese Sprache, im umgangssprachlichen
Sinn als eigene Sprache
und im informatik-wörtlichen Sinne
als Grammatik
oder DTD
, ist nach wie
vor der entscheidende Punkt. Eine Sprache ist überflüssig, wenn
nur einer sie sprechen kann. XML gibt uns die
Möglichkeit, eine für eine bestimmte Anwendung adäquate Sprache zu
definieren, in der wir Daten und Texte miteinander sprechen
können.
In der Zukunft wird es viele solcher Sprachen geben. Für
ein Web der nächsten Generation werden Standards wie
RDF wichtig sein. Viele andere Anwendungen werden
von XML Gebrauch machen. Der Ruf nach
Repositories
, also nach Plätzen, an denen wir unsere
Sprachen (DTDs, Schemata) ablegen und einander zur
Verfügung stellen können, wird schon seit einiger Zeit laut. Diese
wichtige Aufgabe sollte nicht kommerziellen Interessen unterworfen
sein. Eine bedeutende Rolle könnte deshalb die OASIS
(Organization for the Advancement of Structured Information
StandardsIm Web:
http://www.oasis-open.org/) spielen, eine
Organisation, die nicht etwa weitere
technische Spezifikationen schaffen will, sondern die sich für die
Verbreitung der vorhandenen offenen Standards
einsetzt. Unter der Adresse http://www.xml.org/ bietet
OASIS einen unabhängigen Einstieg in
XML; dort soll auch ein Repository entstehen.
Die Offenheit und Unabhängigkeit von XML zu erhalten, in Verbindung mit einem echten Verständnis der Ideen, das sind zwei wesentliche Voraussetzungen für den langfristigen erfolgreichen Einsatz von XML. Aus dem Web wird XML in kurzer Zeit nicht mehr wegzudenken sein. Für viele andere Bereiche wird XML die Rolle eines Integrators übernehmen, um bestehende Techniken und Ideen in einem Konvergenzprozess zum wirtschaftlichen und technischen Erfolg zu führen.